„Rhythmisches Wellen und Wogen“: An Bord

Schlagzeuger Martin Grubinger zu Gast beim Sinfonieorchester Wuppertal

von Johannes Vesper

Die Ruhe vor dem Sturm - Foto © Johannes Vesper

„Rhythmisches Wellen und Wogen“: An Bord
 
Viertes Sinfoniekonzert der 160. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal
 
mit Martin Grubinger und Patrick Hahn
 
10. und 11.12.2022: Programm: Franz Schreker (1878-1934): Sinfonisches Zwischenspiel zur Oper ›Der Schatzgräber‹, Daniél Bjarnason (geb 1979): ›Inferno‹ Konzert für Solo-Percussion und Orchester (Deutsche Erstaufführung), Sergej Prokofjew (1891-1953):  Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100
 
Mit Franz Schrekers sinfonischem Zwischenspiel zu seiner Oper „Der Schatzgräber“ (Uraufführung 1920) begann das ungewöhnliche Programm.  Der österreichische Komponist kam 1888 nach Wien. Da lebten Brahms, Bruckner und Sigmund Freud dort.  Mit u.a. elf Opern war er bald einer der meistgespielten Komponisten der Zeit, noch vor Richard Strauß. Aus dem Unbewußten schöpfte er, setzte Träume und Illusionen sinnlich-spätromantisch, orchestral um. Das hinderte ihn aber, nicht Schönbergs Gurre-Lieder als Dirigent uraufzuführen. 1920 wurde er als Direktor an die Berliner Musikhochschule berufen und bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten von seinem antisemitischen Komponistenkollegen Max von Schillings zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Das Zwischenspiel beginnt mit Pauken, dann öffnen Harfen, Violinsoli (großartig Nikolai Mintchev) vor riesigem Orchester mit gestopfter Tuba, im Dreier schwelgend aufregend das besagte Unbewußte und die Seele. Leidenschaftliche Melodik, differenzierte Dynamik,  spätromantische fließende Harmonik, verwirrende Chromatik nicht scheuend, schmeichelndes Pianissimo: all das entstand unter dem exakten Dirigat des GMD Patrick Hahn und spiegelt musikalisch die komplizierte Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten der Oper wider, bis nach ekstatisch eingestreuter harlekinartige Holzbläser die Affäre mit großem Orchesterschlag endet.  Schade, daß Schrekers herrliche Musik so selten gespielt wird.
 

Patrick Hahn am Pult, rechts Martin Grubinger - Foto © Johannes Vesper

Zwar war die rechte Seite der Bühne schon zuvor weitgehend mit Schlagwerk besetzt (Marimba, Txalaparta (baskisches Aufschlagidiophon), sieben Taikotrommeln unterschiedlichster Größe, Weinflasche, Schlüsselbund, große Trommel, aufwendiges Glockenspiel und anderes mehr) und das Orchester nach links  und hinten zusammen gedrängt. Zuletzt aber es wurden noch vier Pauken links vom Dirigenten zusätzlich gebraucht. Und dann entfaltete Martin Grubinger mit der deutschen Erstaufführung von Daniel Bjarnasons Percussionskonzert „Inferno“ einen Rhythmus-Sturm im Saal. Die Uraufführung erfolgte vor kurzem in Helsinki unter Leitung von Tomas Djupsjöbacka. Der isländische Komponist Bjarnason feiert nach seinem Musikstudium Reykjavík (Aufbaustudium in Freiburg) inzwischen weltweit Erfolg. 2019 wurde seine Auftragskomposition für das LA Phil von Gustavo Dudamel, Zubin Mehta und Esa-Pekka Salonen gemeinsam uraufgeführt. Mehrere Auftragskompositionen erhielt er auch vom Cincinnati Symphony Orchestra. Nach „The Wave“ von Keiko Abe 2017 (Elbtonal Percussions) und der unvergessenen Vivi Vassilieva (Uraufführung „Oraculum“  von Oriol Cruixent) in den letzten Jahren war man hier sehr gespannt auf das dem Solisten gewidmete Werk, der sich wie ein Spitzensportler vorbereitet mit Radfahren, Joggen, 8-10 Übungsstunden, kontrollierter Ernährung,  usw. usw… Nur so fühlt er sich den Herausforderungen seiner Schlagzeugexzesse (Marathonkonzerte bis zu acht Stunden Dauer!) gewachsen. Heute endete „Inferno“ schon nach 33 Minuten. Im 1. Satz („The Bells“) stand die Marimba im Vordergrund. Die Klangfarbigkeit des Schlagzeugapparats ist frappierend. Das Orchester spiegelt gelegentlich kurze thematische Blöcke wider, zieht immer wieder lange melodischen Linien über das orchestral anmutende Schlagwerk, welches im PP von vogelartigen Einwürfen verfremdet wird. Im FF aber sausen die Trommelschlegel, stets mehrere in jeder Hand, aus hochgereckter Höhe auf das Schlagwerk hinab. Die ausgefuchste Agogik schien makellos und der Umfang der Dynamik war erstaunlich. Zum 2. Satz wurden Seiten und Instrumente gewechselt. Auf 4 Pauken breitete der Solist zusammen mit den beiden Schlagzeugern des Orchesters (Martin Schacht und Daniel Häker) zunächst leise Paukenstille und beunruhigende Pauken-Glissandi aus. Dabei wurden dank wechselnder Stimmungen kurze, nahezu melodiöse Themen ineinander verschränkt, bis das Ganze unter zunehmender Dynamik sich zu einem Paukeninferno entwickelt. Im letzten Satz (Dark Shores - Dunkle Ufer) stand das baskische Aufschlagidiophon im Mittelpunkt, Die über zwei Querträgern gelegenen Schlagbalken unterschiedlicher Tonhöhe schlägt Martin Grubinger mit zwei senkrecht oder waagerecht gehalten Schlagstöcken. Der zunächst ruhige „dunkle Strand“ belebt sich zunehmend. Orchester und Schlagwerk nehmen Fahrt auf bis zum rasenden Finale. Das Publikum war völlig aus dem Häuschen. Applaus, Bravi, Blumen, Pfiffe führten zu einer Zugabe, nachdem Martin, hinausgelaufen, mit einer kleinen Trommel zurückkehrte. Alle jemals gespielten Etüden hatte er miteinander kombiniert und entfaltete mit zwei Trommelstöcken  ein Feuerwerk, zauberte motorisch in affenartigem Tempo die kompliziertesten Rhythmen, schlug mit einer Hand hinter dem Rücken, den 2. Taktstock auf Unterarm oder Schulter, streichelte, liebkoste, mißhandelte  die Trommel mit den Stockspitzen. Der Schlagzeugweltmeister hatte zuvor schon dem Publikum versichert, daß das mit Musik nichts zu tun habe. Der Zirkus hat aber hohen Unterhaltungswert. Nach dem Konzert hier fährt Martin Grubinger zur Züricher Tonhalle. Für den Transport zwischen Helsinki und Zürich benötigt er einen 7.5 Tonner Lastwagen und etliche Helfer. Welch ein Aufwand! 
 

Die Zugabe - Foto © Katharina Vesper

Nach der Pause war dann die 5. Sinfonie von Sergei Prokofjew zu hören, mit der er nach eigener Aussage ein „Lied auf den freien und glücklichen Menschen, seine Stärke, seine Großzügigkeit und die Reinheit seiner Seele und den Triumph des Geistes singt“.  Was er damit in der sowjetisch-stalinistischen Gesellschaft von 1944 wohl gemeint hat? Prokofjew kehrte nach jahrelangem Aufenthalt im Westen 1936 wieder in der Sowjetunion zurück, wo er größte Erfolge feiern sollte. Erschreckend, daß sein berühmtes Kinderstück „Peter und der Wolf“ zu dieser Zeit, also auf dem Höhepunkt des Stalinterrors entstand. Prokofjew, der Vorzeigekomponist Stalins, hatte schon den Stalinpreis erhalten und wohnte einem staatlichen Erholungsheim für Komponisten außerhalb Moskaus, als die Sinfonie entstand. Bei der Uraufführung in Moskau am 13.01.1945 sei noch Artillerie-Feuer in der Ferne zu hören gewesen, heißt es. Sein Bezug zu Stalin endete erst mit dem Tod. Sie starben beide am 5.März 1953.
 
Eröffnet wird der 1. Satz breit, melodiös von den Holzbläsern, später ergänzt von sonoren Celli und Kontrabässen. Blechbläser und Streicher nehmen den melodischen Fluß pathetisch auf. Der 2. Satz, ein schnelles musikantisch-motorisches Scherzo (?) wird von einem langsameren Mittelteil der Holzbläser unterbrochen, saust unter heiklem Accelerando seinem Ende entgegen. Das Adagio des 3. Satzes beginnt meditativ (schöne Soli von Klarinette und Fagott), gewinnt im Verlauf an Ernst, Dramatik und Düsternis. Im Kontrast dazu entwickelt sich die zunächst heitere Volksfeststimmung des Finales am Ende zu grotesker Hochgeschwindigkeitsraserei, bevor mit einem Orchesterschlag der Spuk endet. Zwischen Pathos und Groteske wird die Spannung dieser großen Sinfonie von Dirigenten und Orchester immer gehalten und das Publikum feiert beide mit großem Applaus. Der Übertitel des Konzertes („An Bord") erscheint im Übrigen wenig plausibel. 
 

Prokofjew unter dem Himmel der Historischen Stadthalle - Foto © Johannes Vesper

Das Konzert wird heute Abend, 20.00 Uhr noch einmal gegeben.

Weitere Informationen: www.sinfonieorchester-wuppertal.de